
Fußballkolumne von Detlev Claussen
II. Oskars Club
Über Fußball wird viel Mist erzählt. Auch und
gerade von Intellektuellen, die über Fußball reden, ohne zu analysieren,
was auf dem Platz geschieht. Das gibt dem im Fußballbusiness
weitverbreiteten Antiintellektualismus Futter. Adi Preisslers
erkenntnistheoretische Ruhrpott-Maxime, die von Otto Rehhagel gern
zitiert wurde, „Die Wahrheit iss´ auf´m Platz“ richtet sich gegen
Ballhoo- Stimmungsmache, Großsprecherei vor dem Spiel und Schlaumeierei
auf den Rängen. Umso erschütternder ist es, wenn kluge Leute keine
Analyse des gespielten Fußballs betreiben, sondern nur ihren Gefühlen
beim Zuschauen Ausdruck geben. Wer die Frankfurter Schulbank in den 50er
und 60er Jahren gedrückt hat, als die Philosophische Fakultät der
Goethe Uni noch nicht in einen linguistischen Turnübungsplatz verwandelt
worden war, musste lernen, dass Kritik ihr Ziel verfehlt, wenn sie
nicht aus der Sache selbst entwickelt wird, sondern der Kritiker über
der Sache zu stehen vermeint. Zum Grundwissen der Kritischen Theorie
gehört Adornos vernichtendes Diktum über den gescheiterten Versuch
seines Mentors Kracauer, eine „soziale Biographie“ Jacques Offenbachs zu
schreiben: „Offenbach ohne Musik geht nicht!“
In der letzten Wochendausgabe der taz redet sich der nach
eigenem Selbstverständnis „politische Intellektuelle“ Oskar Negt um
seinen kritischen Kopf und Kragen, wenn er die EM zu den
„unterhaltenden Verdrängungsleistungen“ rechnet. Wenn man „panem et
circenses“ kritisieren will, kann das doch nicht heißen, man soll kein
Brot mehr essen und keinen Spass mehr am Zirkus haben. Ohne Spielanalyse
regrediert kritische Gesellschaftstheorie zum kulturpessimistischen
Räsonnement, das im spielerischen Konkurrenzkampf von
Nationalmannschaften eine Vorstufe des Krieges erblickt und die
Kommerzialisierung als gesellschaftszersetzendes Teufelswerk beklagt.
Schimpfen auf Kommerz verkürzt die Kritik der Kulturindustrie auf ein
Ressentiment gegen cheap thrills – ein Oskars Club für
Intellektuelle, die sich über Leute mokieren, die Spass und nicht
ernsthafte Hochkultur haben wollen – letzte Nachwehen
bildungsbürgerlicher Vorurteile gegen english sports.
In der Tat: Fußball ist im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Ware
geworden; aber wie Kultur ist auch Fußball eine „paradoxe Ware“. Ohne
das Zur-Ware-werden der bürgerlichen Kulturprodukte im 19. Jahrhundert
wäre es nie zur Emanzipation der Künstler von den aristokratischen
Auftraggebern und zur Vorstellung autonomer Kunst gekommen; ohne die
Professionalisierung des Fußballs wäre er nicht für Proletarier,
Migranten und Außenseiter eine bevorzugte Möglichkeit geworden,
weltweit am öffentlichen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Erst
seit der DFB erkannt hat, dass alle, die in
Deutschland Fußball spielen, potentiell auch Nationalspieler sind, wird
die nationale fußballerische Organisation der gesellschaftlichen
Realität einer ethnisch heterogenen Gesellschaft gerecht. Wer da über
Nationalmannschaften als „bunte Völkermischung“ räsonniert, hat nicht
nur den Fußball nicht verstanden, sondern versteht auch die
Gesellschaft, in der er gespielt wird, nicht mehr.
Frankfurt am Main 25. 06. 2012
I. Mit Kopf gespielt

Über Fußball wird viel dummes Zeug geredet.
Martin Walser hat einmal gesagt, es gäbe noch etwas Dümmeres als
Fußball, nämlich Nachdenken über Fußball. Lothar Baier hat einmal über
Martin Walser gesagt, er denke mit dem Herzen und fühle mit dem Kopf.
Das war ein Treffer. Intellektuelle Verachtung des Fußballs gehört zur
unseligen Tradition des deutschen Bildungsbürgertums, das es für ein
Privileg hielt, von praktischen Dingen nichts zu verstehen: Vorurteil
aus Ahnungslosigkeit. Frauen, die stolz darauf sind, keine Ahnung vom
Fußball zu haben, sind die letzten Tempelhüterinnen der
Fußballverachtung. Aber sie werden immer weniger. Der Fußball hat in der
Tat nach dem Ende des 20. Jahrhunderts weltweit die Massen ergriffen …
und das ist auch gut so; denn Fussball ist ein schönes
leidenschaftliches Spiel, bei dem jeder mitmachen kann – spielend oder
zuschauend. Kein Bildungsprivileg muss überwunden werden, um Freude am
Spiel zu haben; aber man hat mehr vom Spiel, wenn man seinen Kopf
benutzt.
Man hat auch mehr vom Reden über Fußball, wenn man etwas vom Fußball
versteht. Leider wird über Fußball auch viel dummes Zeug geschrieben,
weil viele Leute, die über Fußball schreiben, keine Interesse am Spiel
haben. Das Viertelfinale Griechenland gegen Deutschland wurde von vielen
Printmedien „hochsterilisiert“, wie Bruno Labbadia diese Technik in
schöner Fehlleistung auf den Punkt gebracht hat, zum Kampf um den Euro,
zur Abwehrschlacht gegen die deutschen „Panzer“, während „BILD“ auf alle
Griechen als weißblaue Tavernenkellner herabschaut. Wenn es etwas
gestern zu sehen gab, dann war es der epische Kampf zwischen effektivem
Defensivspiel und risikoreichem Angriffsspiel. Die Anhänger des schönen
Spiels, des Jogo bonito, wie es die Brasilianer nennen, haben gestern 4:2 gewonnen – wirklich ein Grund zum Jubeln.
Frankfurt a. M. 23. 06. 2012
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